Nieder mit dem Weihnachtsmann!
Nicht, daß ich was gegen den Brauch des Weihnachtsfestes hätte, aber manchmal frage ich mich, ob er mehr Fluch oder Segen für die Menschheit ist; genauer:
Segen oder Fluch für mich.
Denn immer, wenn sich ein Jahr dem Ende zuneigt und die Tage kürzer und kälter werden, befällt mich jedesmal eine panische Angst.
Ich pflege nämlich meine Geschenke erst auf die letzte Minute zu kaufen, was jedoch recht nervenverschleißend ist.
Aber es sind ja nicht nur die Geschenke.
Auch das ganze Drumherum läßt mich nicht gerade frohen Mutes in die Zukunft blicken.
Mit Grausen und Zittern erinnere ich mich noch an das Weihnachtsfest des Jahres 1986...
Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Ich sitze in meinem Zimmer und schaue aus dem Fenster, an dem sich von Zeit zu Zeit Schneeflocken niederlassen, damit sie schmelzen können.
Irgendwie ist heute alles anders als sonst, eine seltsame festliche Stimmung liegt in der Luft, die nach Moschus und Lebkuchenherzen duftet.
Ich schalte meinen Rechner (ZX-81) an und starte den ewigen Kalender.
Und mit einem Male ist das Geheimnis gelüftet: es ist heute jener Tag, an dem uns Jesus geboren wurde.
Aber die Welt lebt in einem Irrtum.
Denn er wurde gar nicht am 24.12.0000 geboren.
Wann genau weiß ich allerdings auch nicht, ich weiß nur, daß sich vor langer, langer Zeit einmal ein Mönch an die Kalenderumrechnung gemacht hat, wobei ihm jedoch einige Fehler unterlaufen sind.
Ein Jahr 0000 hat es nämlich nie gegeben!
Aber dies soll mich an einem Tag wie diesem nicht interessieren.
Die Heizung spendet mollige Wärme, ja, selbst in den Gesichtern der Menschen, die an meinem Fenster vorübergehen, entdecke ich nie gekannte Züge der Herzlichkeit, und die Kinder auf der Straße blicken mit großen, erwartungsvollen Augen auf ihre Uhren.
Ich verlasse mein Kämmerlein und begebe mich auf den Korridor, wo meine Mutter bei meinem Anblick panikartig mehrere Pakete in der Besenkammer verschwinden läßt.
Ich gehe ins Wohnzimmer, in dem es nach Duftkerzen und frischen Tannennadeln riecht.
Mein träger Blick fällt auf den reichlich geschmückten Tannenbaum, der wegen seiner extremen Naturschräglage von einem meiner Brüder mit einer Schnur an der Wand befestigt wurde.
Er hätte wenigstens Lametta über die Kordel tun Können, der alte Barbar.
Aber anstatt mit ihm zu schimpfen sage ich ihm ein paar liebe Worte.
Es muß tatsachlich was dran sein, am Fest der Liebe.
Allerdings wird meine Schwärmerei jäh unterbrochen, die Türklingel, die von irgendjemandem ununterbrochen bedient wird, holt mich in die Wirklichkeit zurück.
Wer wagt es, die festliche Stimmung zu stören? Natürlich. Meine liebe Schwester.
Und sie kommt nicht allein - im Schlepptau hat sie ihre Kinder, die natürlich auch schon ihre Geschenke erhalten und sie zwecks Vorführung mitgebracht haben.
Ich glaube, ich brauche noch etwas Ruhe und verziehe mich wieder auf mein Zimmer.
Draußen wird es immer dunkler, und auch der Schnee fällt nun etwas dichter, aber immer noch sanft und leise, so, als würde man Puderzucker auf frische Waffeln streuen.
Kein Auto ist unterwegs, nur hier und da hasten dick vermummte Männer über die verschneite Straße, wahrscheinlich auf dem Weg nach Hause, wo ihr Schatz schon auf sie wartet.
Es ist wie im Traum, wenn da nicht meine kleine Nichte wäre, die ihre neue Trompete unablässig bedient.
Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn man in jungen Jahren ein Musikinstrument erlernt, aber muß es denn Trompete sein?
Es gibt doch viel hübschere Instrumente für dreijährige Mädels, wie z.B. Flöte oder Kontrabaß.
Ich versuche, die Anzahl gefallener Schneeflocken pro Quadratmeter zu bestimmen kann mein Ergebnis jedoch nicht auf TRUE oder FALSE hin überprüfen lassen, da meine Mutter zum Essen ruft.
Ich begebe mich in das Eßzimmer, wo sich der Tisch unter einem opulenten Mahl nur ächzend aufrecht halten kann.
Es gibt Ente, Kartoffeln, Gemüse, verschiedene Salate, sowie eine Ohrfeige für meine kleine Nichte, die versucht hat, ihren Kakao durch die Trompete zu trinken.
Mein Gott, was ist denn da so schlimm dran, wenn das Kind die Gesetze des Unterdrucks erforschen will?
Aber ich habe keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn ich muß zusehen, daß auch ich an der Opulenz teilhaben kann, denn unsere Familie ist nicht gerade klein.
Mit einem Salto rückwärts (geschraubt und zweifach gehöppt) sichere ich mir ein Stück Putenkeule, was mir neidvolle Blicke seitens meines Schwagers einbringt.
Der soll bloß ruhig sein, der elende Dieb. Wegen ihm bekomme ich keinen Rotkohl, da er die Schüssel genommen hat und sie nicht wieder hergeben wird, ich kenne ihn.
Am anderen Ende des Tisches prügelt sich meine Großmutter mit meinem Bruder um die Salatzange.
Meine Großmutter siegt schließlich, nach Einsatz ihres Stockes, durch Punkte und darf sich als erstes vom Salat nehmen.
Draußen auf dem Flur poltert es; mein kleiner Neffe ist mit dem Garderobenständer zusammengebrochen und sucht heulend unter dem Mantel meiner Schwägerin Schutz.
Meine Schwester hat sich die allgemeine Ablenkung zu Nutze gemacht und sich einen gewaltigen Berg Kartoffeln auf ihren Teller geschaufelt.
Nunja. Schliesslich ist ja Weihnachten, das Fest des Friedens. Noch EIN Ton aus der Trompete, und ich werde wahnsinnig.
Meine Mutter geht in die Küche und kehrt mit einem Servierwagen zurück, auf dem sich verschiedene Nachspeisen befinden, für jeden etwas.
Nur nicht für meinen Schwager. Er verweigert nämlich jede weitere Nahrungsaufnahme.
Das hat er nun davon, daß er den ganzen Rotkohl gefressen hat. Die verbleibende Portion wird aufgeteilt zwischen meinen beiden Schwestern.
Allerdings fehlt auch ihnen noch das festliche Bewußtsein, denn keine will die andere teilen lassen und bezichtigt sie des Betruges.
Ich mache den Vorschlag, daß die eine teilt und die andere dann wählen darf. Meine weiteren Worte gehen im Beifallssturm unter.
Und auch die Welt geht unter. Zumindest beinahe, denn meine kleine Nichte hat infolge ihres Forscherdranges den Tisch umgerissen, an dem sie sich festhalten wollte, um nicht mit dem aus dem Gleichgewicht gebrachten Stuhl umzufallen.
Schade.
Hätte zu gerne erfahren, ob mein Vorschlag wirklich so gut war.
Ich schleiche aus dem Zimmer und versuche, im allgemeinen Chaos die Trompete unschädlich zu machen. Leider wird diese Absicht durch die fragenden Blicke meiner kleinen Nichte im Keim erstickt. Ich vertusche meine Verlegenheit und setze mir die Trompete auf den Kopf und murmele etwas von \"...da hast Du aber einen komischen Hut...\"
Meine Nichte blickt mich verächtlich an, nimmt das Mordinstrument wieder an sich und tritt mich. Also, wenn heute nicht Weihnachten wäre...
Aber es ist nun einmal so, und meine Mutter läutet des Dramas letzten Akt ein.
Es geht nun nämlich an die Bescherung. Ich gehe in mein Zimmer, um meinen Sack mit den Geschenken zu holen und ertappe meinen Bruder beim spionieren.
Also, das ist doch nicht zu fassen. Ein erwachsener Mann und dann sowas! Ich verjage ihn, frage ihn jedoch noch, was ich denn von ihm bekommen werde.
Seine Antwort fällt leider zu barsch aus, als daß man sie hier wiedergeben könnte. Ich schnappe mir meinen Geschenksack und gehe ins Wohnzimmer, wo die Schenkerei schon voll im Gange ist. Nämlich die Einschenkerei. Mein Schwager, der alte Wegelagerer, hat nämlich den Vorschlag gemacht, zuvor ein kleines Gläschen zu trinken, damit die Festlichkeit noch gesteigert wird.
Anscheinend beherrscht er die Kunst der Rede perfekt, denn alle halten Gläser in der Hand, sogar mein älterer Bruder, der sonst nicht zu trinken pflegt. Mit einem Frohe Weihnachten! werden die Gläser nicht nur angesetzt, sondern auch geleert. Somit ist der gemütliche Teil des Abends eröffnet und es werden die Geschenke ausgetauscht.
Nur mein Schwager tanzt mal wieder aus der Reihe. Er legt die erhaltenen Geschenke direkt zur Seite, damit er die Hände frei zum Eingießen hat.
Mittlerweile ist es ihm egal, ob er alleine trinkt, als ich ihm mein Geschenk bringe, lallt er irgendwas von \"...Hauptsache, es trinkt überhaupt einer!...\".
Einfach schockierend. Wie kann man sich an einem solchen Tage nur so gehen lassen?
Ich ergreife die Flasche und spüle meinen Ärger mit ein paar kräftigen Schlucken hinab.
Meine Oma versucht das Geheimnis eines Elektroföhns zu lüften und schließt das Gerät an die Steckdose an. Es funktioniert tadellos, worauf sie anfängt, sich zu frisieren.
Ich hingegen probiere meinen neuen Rasierer aus und rücke damit den Kakteen auf der Fensterbank zu Leibe, da ich mich bereits am Morgen von meiner Bartpracht befreit habe.
Als ich zurückkehre, sehe ich, wie sich meine kleine Nichte über meinen Teller mit Süßigkeiten hermacht. Ich stehle ihre Trompete und setze sie auf die Tannenbaumspitze, was zwar recht hübsch
aussieht, jedoch ein Heulsolo meiner Nichte zur Folge hat, worauf ich den Baum wieder seiner neu gewonnen Pracht beraube.
Mein Schwager torkelt durch das Zimmer und versucht, meine Großmutter zum Saufen zu verleiten.
Sie wehrt sich energisch, indem sie ihn den Föhn in den Mund steckt, worauf mein Schwager fluchend das Weite sucht.
Allerdings wußte ich nicht, daß das Weite so nah liegt, denn er kommt nur bis zum Tannenbaum und hält dort inne, wahrscheinlich aufgrund ernster Koordinationsschwierigkeiten.
Ich wende mich vom Elend ab und meinem Bruder zu, der mir nun doch sein Geschenk überreicht.
Ein Rasierapparat.
Super, der andere ging nämlich bei der dritten Kaktee kaputt. Ich drehe mich um und will auf die Fensterbank zugehen, hechte jedoch hinter den Sessel, da mein Schwager mir mitsamt Tannenbaum entgegengefallen kommt.
Im Sturz reißt er noch die Stehlampe um, wodurch das Wohnzimmer in komplettes Dunkel getaucht wird.
Ganz dunkel?
Nein, in der Ecke flimmert noch ein kleines Licht, das allerdings erstaunlich schnell größer und heller wird.
Wieso musste meine Mutter auch echte Kerzen für den Tannenbaum nehmen? Es ist aber nicht der Tannenbaum, der da leuchtet, sondern die Gardine.
Bei genauerem Hinsehen entdecke ich, daß sie brennt. Ich reiße sie von der Gardinenstange und werfe sie auf den Balkon. Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.
Mein Bruder hat inzwischen die große Lampe an der Decke eingeschaltet, so daß ich meinem Schwager bei seinen Versuchen, sich des Tannenbaums zu entledigen, zusehen kann.
Er faselt irgendwas, ich glaube \"...na,na, nicht so stürmisch, junge Frau...\" und wälzt sich am Boden, jedoch gelingt es ihm, die Flasche, die er noch immer krampfhaft festhält, so zu halten, daß nichts verschüttet wird.
Aber wie will man aus einer leeren Flasche was ausschütten?
Meine kleine Nichte hat sich mit ihrer Trompete auf dem Lokus eingeschlossen und spielt Händels Kleine Wassermusik.
Komisch, ich hatte das Stück anders in Erinnerung, vollkommen ohne avantgardistische Elemente... naja, den jungen Musikern von heute ist ja nichts mehr heilig.
Es geht langsam gegen elf Uhr, meine Großmutter hat sich inzwischen schon die letzten Reste ihrer Haarpracht weggeföhnt, was ich auf eine übertrieben gute Heizspirale zurückführe.
Meine Nichte ist auch ruhig, sie ist entweder eingeschlafen oder am Mundstück der Trompete erstickt.
Langsam löst sich unsere gemütliche Runde auf, nur mein Schwager, der alte Schnorrer, tanzt noch immer Blues mit dem Tannenbaum.
Aber das interessiert mich nicht. In Gedanken bin ich schon wieder ganz woanders...
nämlich bei meiner anderen Schwester, bei der ja morgen Bescherung ist...
--
Aussagen sind stets IMHO und ohne Gewähr,
Ausnahmen bestätigen die Regel,
Regeln gelten nur im Prinzip.
Auf Unvollständigkeit wird ausdrücklich hingewiesen!